Literaturrezeption in Lesegemeinschaften. Social Reading face-to-face und online.
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, 1.-3. März 2017
Lesen ist nicht nur ein individueller, sondern auch ein kommunikativer Akt der Aneignung. Der Begriff Social Reading hat sich in Analogie zu Social Media etabliert und bezieht sich meist auf die Kommunikation von Leser_innen (User) über Bücher in den bzw. mit Hilfe der neuen Medien. Doch nimmt man ihn in seiner wörtlichen Übersetzung als soziales Lesen, dann tritt damit der kommunikative Austausch über Leseerfahrungen und Lektüren insgesamt in den Blick. Dieser breiten Auslegung von Social Reading widmet sich die Tagung „Literaturrezeption in Lesegemeinschaften.“ Über Bücher zu sprechen war noch nie so einfach wie heute. Leser_innen finden über neue Medien eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten über Literatur auszutauschen. Aber das Bedürfnis, sich über literarische Texte auszutauschen, ist kein neues Phänomen, es reicht zurück bis in die literarischen Salons des 18. Jahrhunderts. Und es ist ein weltweit zu beobachtender und zunehmend populärer Trend, der sich an der Vielzahl an privat oder institutionell organisierten Lesekreisen und einschlägigen online Diskussionsforen zeigt. Im deutschen Sprachraum ist diese Entwicklung bis dato kaum erforscht. Wenn selbst organisierte private Lesekreise und Internetforen Gespräche über ihre Lektüren (meist fiktionale Texte) organisieren, werden selbstreferenzielle, soziale und diskursive Dimensionen des Lesens sichtbar. Lesekreise wählen ihre Lesestoffe selbst, die Mitglieder tauschen Leseerlebnisse aus, recherchieren Informationen zu Text und Autor, gleichen ihr jeweiliges Verständnis des Textes ab und suchen nach einer intersubjektiv tragfähigen Interpretation von Text und Kontext. Beobachtbar wird ein Aushandeln der Bedeutung von (literarischer) Lektüre und der damit verbundenen Formen, Strategien und Prozesse von Gruppenbildung, kollektiver bzw. im Kollektiv abgestimmter Wissensbeschaffung und – organisation, Orientierung und Sinngebung, Argumentation, Entscheidungsfindung und Bewertung. Dieses gemeinschaftliche Aushandeln von Bedeutungen ist aus der Sicht der Literatur- und Kommunikationswissenschaften, der Buch- und Buchmarkt-, Rezeptions- und Sozialforschung interessant, können doch auf diese Weise Aufschlüsse über Rezeptionsprozesse und das Rezeptionsverhalten von Laienleser_innen gewonnen werden, die ansonsten im Verborgenen bleiben. Ausgehend von einem breiten Rezeptionsbegriff werden Prozesse der Auswahl und Aneignung von literarischen Texten ebenso in den Blick genommen wie soziale und kommunikative Strategien in der Wertung von Literatur. Folgende Fragen sollen diskutiert werden:
- Welchen Mehrwert bietet eine Teilnahme an Lesekreisen, an Onlineforen oder Laienrezensionsportalen im Verhältnis zur (einsamen) Individuallektüre? Wie artikulieren sich die individuellen Ansprüche sowohl an literarische Texte als auch an das Gruppenerlebnis und wie werden diese Ansprüche innerhalb einer Gruppe aufeinander abgestimmt?
- Welche Strategien verfolgen selbst organisierte Lesekreise in der Auswahl der gemeinschaftlichen Lektüre? Welchen Einfluss üben literarische Bildung und der literarische Kanon auf Leser_innen aus? Welche Rolle spielen Einflüsse aus dem literarischen Feld (Literaturpreise, Gedenktage)? Wie manifestieren sich die Vermittlungsstrategien des Buchmarkts und der Literaturkritik im Rezeptionsverhalten von Leser_innen allgemein und im Konkreten (Lesekreise)?
- Welche Prozesse der Textaneignung sind beobachtbar? Wie werden implizite, wie explizite Normen und Werte sichtbar? Auf welche Aspekte kann sich eine Leser_innengemeinschaft, wie lose verbunden diese auch sein mag, einigen, worüber gerät sie Konflikt? Und lässt sich dies fallübergreifend systematisieren?
- Inwiefern unterscheiden sich die Diskussionsprozesse in face-to-face Gruppen von denen in Onlineforen? Sind sie vorwiegend den medial bedingten Organisationsformen geschuldet? Zeigen sich divergente Orientierungen, Schwerpunkte, Strategien in der Diskussion desselben literarischen Werkes in face-to-face Gruppen und in Onlineforen? – Wie situiert sich der Trend zu Lesegemeinschaften innerhalb allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen? Ist er Ausdruck der auch in anderen Bereichen zu beobachtenden Selbstermächtigung des Individuums gegenüber einer literarischen Expertenkultur? Bietet das Gruppenerlebnis jene Orientierung und Sicherheit, die in heteronomen komplexen Gesellschaften scheinbar abhandengekommen ist?
- In welchem historischen Kontext stehen die neuen Lesergemeinschaften? Sind sie tatsächlich so neu, wie im Literaturbetrieb gerne behauptet wird? Worin liegt das Neue, und was wäre in diesem Gespräch über Literatur vielleicht als Universalie zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert zu identifizieren?
- Verlage, Buchhandlungen und Büchereien haben Lesekreise als relevante Ansprechpartner in der Vermittlung von Literatur erkannt. Sie werden umworben, motiviert, mit Bonusmaterial versorgt oder sogar initiiert. Was erhofft man sich dadurch? Werden Lesekreise zu MarketingInstrumenten in Zeiten schwindender Buchkauf- und Leselust?
- Was gewinnt die Forschung durch die Beschäftigung mit den verschiedenen Formen des Social Reading? Erhalten Leser_innen, die im Prozess der Vermittlung von Literatur vorwiegend als End- und Zielpunkt der Bemühungen der produktiven und vermittelnden Instanzen gesehen werden, einen neuen Status? Was bedeutet dies für die rezeptionsorientierte Literaturwissenschaft, die von einer rezeptionsästhetischen Fokussierung (Iser, Jauß) kommend sich rezeptionssoziologischen Fragen stellen soll?