„Der ist jetzt in aller Munde.“

Strategien und Prozesse der Lektürewahl in Lesegruppen

Doris Moser (Klagenfurt)

Eine Lesegruppe (Literaturkreis) setzt sich aus Menschen zusammen, die gerne Bücher lesen und sich treffen, um über einen Text zu sprechen, den sie – alle – gelesen haben. Doch wie wird bestimmt, was die Gruppe lesen und diskutieren soll? Die Spielregeln für die Auswahl der Gruppenlektüre unterscheiden sich von Gruppe zu Gruppe und reichen von hierarchisch-autoritär bis zu komplex-demokratisch. Für manches Gruppenmitglied bedeutet das Vorschlagsrecht Ehre und Herausforderung, für andere lästige Pflicht, und die dritten müssen sich dieses Recht erst verdienen – etwa als Gastgeberin, die nebenher für das leibliche Wohl zu sorgen hat.

So aufschlussreich das Auswahlprocedere hinsichtlich der Gruppenprofile sein mag, von größerer Bedeutung für die Beschreibung der Lektürewahl sind die Hintergrundprozesse, auf die der formalisierte Akt aufsetzt, und die letztlich alle Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen: die Entscheidung für oder gegen das Lesen (tatsächlich oder beabsichtigt) eines bestimmten Buches. Woher und wie bezieht man Informationen, Anregungen, Ideen? Welche Ansprüche, welche Erwartungen sollen befriedigt werden, auf welchen Vorstellungen, Werten, Normen beruhen sie? Welche individuellen, kulturellen, sozialen, medialen und auch ökonomischen Faktoren (Motive) beeinflussen die Entscheidung? Bei der Auswahl der Gruppenlektüre erhöht sich der Komplexitätsgrad noch um die Faktoren Gruppe und Gespräch. Kommunikationsstrukturen, interne Hierarchisierungen, Ansprüche an das Gruppengespräch (Erwartungserwartungen!) gehören ebenso dazu wie etwa das Distinktionsrisiko, das ein Mitglied der Gruppe eingeht, indem es ein Buch vorschlägt, das die Gruppe womöglich verreißt.

Auf Basis der 18 f2f-Diskussionen des Klagenfurter Lesegruppen-Projekts wird mit Hilfe qualitativer Datenanalyse der Lektürewahl-Prozess dreier Lesegruppen entlang o.a. Fragestellungen untersucht.  Der theoretische Rahmen verknüpft Pierre Bourdieus kultursoziologischen Ansatz (sozio-kulturelle Ebene) mit für die Fragestellung relevanten Aspekten der Schematheorie (sozio-individuelle Ebene).

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