Geschmacksrichter unter sich?
Sandra Rühr (Erlangen)
Was haben Lesegemeinschaften und Dichterkreise gemeinsam? Ausgehend von den Befunden zu zeitgenössischen Lesegemeinschaften wird versucht, deren Merkmale auf Dichterkreise des frühen 20. Jahrhunderts anzuwenden. Hierbei wird die These zugrunde gelegt, dass Lesegemeinschaften Formen sind, die sich im 18. Jahrhundert im Zuge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft aus den literarischen Salons entwickelt haben. Diese und nicht die Lesegesellschaften waren es, die dazu beitrugen, dass sich identitätsstabilisierende Gemeinschaften herausbildeten. Diese Gemeinschaften zeichneten sich einerseits durch ein im Max Weber‘schen Sinne affektuales oder traditionales Zusammengehörigkeitsgefühl aus und stellten andererseits mit Bezug auf Levin Schücking und Pierre Bourdieu Geschmacksrichter dar, die sich ihrer selbst und ihrer Vorstellungen und Haltungen über eine Schar Gleichgesinnter versicherten. Während aber der Zusammenhang zwischen Lesegemeinschaften im modernen Sinn und literarischen Salons naheliegend zu sein scheint, ist der Bezug zu Dichterkreisen bislang noch nicht aufgedeckt worden. Der Beitrag stellt diesen her, indem er ausgehend vom Ansatz des Geschmacksrichters hinterfragt, worin der jeweilige Fokus hinsichtlich der Akteure, ihres literarischen Handelns und ihrer Positionierung auf dem literarischen Feld liegt. Zugrunde gelegt werden die Aktivitäten von Dichterkreisen des „jüngsten Deutschland“ um 1900. Ziel ist es, den historischen Kontext zeitgenössischer Lesegemeinschaften einerseits weiter herauszuarbeiten und andererseits deren Konzept zu präzisieren.
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