Was sollen wir lesen – und weshalb?

Die Bedeutung von Emotionen für die identitätsstiftende Wirkung von Lektüren und Leseverhalten

Stefan Neuhaus (Koblenz)

Wenn man die zahlreichen Positionsbestimmungen eines Lektürekanons Revue passieren lässt, dann wird man nicht überrascht sein festzustellen, dass die Antwort auf die Frage, welchen Kanon es gibt, oft mit einer mehr oder weniger expliziten Positionsbestimmung verbunden ist, welchen Kanon es geben sollte.

Die Kritische Theorie (Max Horkheimer / Theodor W. Adorno), die Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser) und die von ihr sowie von der sich entwickelnden Sozialgeschichte beeinflusste Forschung zu Leseverhalten und Unterhaltungsliteratur (Rudolf Schenda, Peter Nusser), um nur einige Richtungen und Namen zu nennen, haben einen Kanon stark gemacht, der im Dienste eines humanistischen Bildungsbegriffs steht und in der Tradition einer ‚ästhetischen Erziehung‘, wie sie Friedrich Schiller skizziert hat. Nicht erst seit der sogenannten Studentenbewegung von 1968 wird Literatur auch in Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Fragen gesehen. In jüngerer Zeit gab es Versuche, eher eine Beschreibung der Funktionsweisen von Literatur in einer Gesellschaft in den Blick zu nehmen, zu den bekanntesten Beispielen gehören die groß angelegten Theoriemodelle von Niklas Luhmann („Die Kunst der Gesellschaft“) und Pierre Bourdieu („Die Regeln der Kunst“).

Weniger Beachtung hat die Frage gefunden, weshalb LeserInnen eigentlich lesen. Mit Sandra Poppe ist festzuhalten, „dass Fiktionen die Möglichkeit einer Erprobung von Emotionen bieten“.[1] Thomas Anz hat an Sigmund Freuds Konzept einer ‚ästhetischen Lust‘ angeschlossen und festgestellt: „Vielleicht ist Freuds aufklärerischer Impuls sogar ein hedonistischer und geht aus dem Wunsch hervor, ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken.“[2] Insofern müssen sich ‚autonom-ästhetische‘ und ‚heteronome‘ Lektüren gar nicht ausschließen.[3]

Der Vortrag möchte erstens versuchen zu zeigen, dass der bisherige Diskurs über den Lektürekanon von einem Lust-Unlust-Konzept ausgeht, das – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig ist; zweitens soll versucht werden, den Diskurs als Macht-Diskurs zu beschreiben und damit auch einige der Interessen sichtbar zu machen, die bestimmte Positionen und Positionierungen beeinflussen. Vielleicht lässt sich so ein etwas anderer, vor allem anders wertender Blick auf das, was wir als Kanon bezeichnen, gewinnen.

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[1] Sandra Poppe: Emotionsvermittlung und Emotionalisierung in Literatur und Film – eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (Film – Medium – Diskurs, Bd. 36), S. 9-27, hier S. 12.

[2] Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: C.H. Beck 1998, S. 10.

[3] Zu den Begriffen vgl. Renate von Heydebrand u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Ge-schichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996 (UTB 1953), S. 29ff.